Die Corona-Pandemie hat noch sichtbarer werden lassen, was seit Jahrzehnten immer wieder Thema der Bildungsdebatten, aber auch Erfahrung an vielen Schulen ist: Die massive Benachteiligung und Belastungen von Kindern aus armen Familien. Seit einiger Zeit wird der Begriff des Klassismus nicht nur für Bildungsbenachteiligung und begrenzte Aufstiegsmöglichkeiten verwendet, sondern generell für die Diskriminierung, Abwertung und Verachtung von armen Menschen.
Zwei Bücher zum Thema mit je unterschiedlichen Perspektiven möchten wir empfehlen:
Aladin El-Maffaalani, Mythos Bildung, 2020, 2021, Kiepenheuer &Witsch, Köln
Aladin El-Mafaalani hat das Bildungssystem, wie er schreibt, aus vielen Perspektiven kennengelernt: Als Schüler und Student, als Berufsschul- und Hochschullehrer, als Minsterialbeamter, Bildungsforscher und Vater. Diese Vielfalt der Perspektiven findet sich in dem Buch wieder, dessen einzelne Kapitel auch für sich stehen können. Eindrucksvoll beschreibt er die Paradoxien, die unser Bildungssystem hervorbringt, so u.a. dass steigende Bildungschancen Bildungsungleichheit steigern, soziale Ungleichheit legitimiert wird, wo sie eigentlich abgebaut werden soll. Bildung ist nicht der Schlüssel für die Lösung gesellschaftlicher Probleme, aber gleichzeitig ist das Bildungssystem der einzige Ort, wo dieser Kreislauf durchbrochen werden kann, weil nur hier alle Menschen gleichermaßen erreicht werden. Dies kann aber nicht durch Unterricht und Lehrkräfte ausgeglichen werden, weil sich Lebenswelten und Erfahrungshorizonte von Kindern enorm unterscheiden. Besonders erhellend ist in diesem Zusammenhang das Kapitel über Aufwachsen in Armut. Mafaalani beschreibt hier in Anlehnung an Bordieu anschaulich die Unterschiede des Habitus, der sich bereits in frühen Lebensphasen prägt und von ökonomischen Ressourcen, Bildungsniveau der Eltern und sozialen Netzwerken geprägt wird. Ein Habitus ist eine Grundhaltung, aus der man die Welt sieht. In armen Familien zielt dies auf ein Management des Mangels ab, welches Kinder früh erlernen und ihr Leben prägt. Diese sind bestimmt von an Kurzfristigkeit orientiertem Denken, starker Nutzen- und Funktionsorientierung und Risikovermeidung. Hinzu kommen objektive Besonderheiten, die ein Aufwachsen in Armut ausmachen. Dies alles hat extreme Auswirkung auf das Lernverhalten und den Bildungserfolg. Im weiteren Verlauf beschreibt Mafaalani sehr plastisch, was dies im Kontext Schule bedeutet und warum insbesondere Lehrkräfte, die meist aus einem bildungsaffinen Milieu stammen, es schwer haben, die Lebenswirklichkeit armer Kinder nachzuvollziehen und die deshalb ihre Potentiale nicht wahrnehmen. Zu den erhellenden Analysen kommen praxisorientierte Vorschläge sowie ein aktuelles Kapitel zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie.
Anna Mayr, Die Elenden, Hanser Verlag Berlin, 2020
Anna Mayr, Jahrgang 1993, arbeitet im Politik-Ressort der Zeit und schreibt dieses Buch aus einer sehr persönlichen Perspektive. Sie selbst ist in einer Familie aufgewachsen, die weitgehend von sozialen Transferleistungen lebte. Gleichzeitig entspricht ihre Familie nicht den gängigen Klischees der Langzeitarbeitslosen oder „Sozialschwachen“: Ihre Eltern haben beide Abitur, Bücher waren präsent und der Begriff „bildungsfern“ trifft hier nicht zu. Dies zeigt zum einen, wie nötig ein differenzierter Blick auf die Menschen ist, deren Leben von Armut und Arbeitslosigkeit geprägt ist. Es zeigt aber auch, was es für Kinder und Jugendliche bedeutet, arm zu sein. Sehr plastisch beschreibt sie, wie Menschen durch Armut und Arbeitslosigkeit immer mehr von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden, herausfallen aus dem, was Normalität bedeutet. Sie entlarvt Vorurteile und paternalistische sozialpolitische Reparaturversuche ebenso wie den durch die Agenda 2010 eingeführten Sozialabbau. Diese politischen Prozesse werden überzeugend mit ihrer eigenen Biographie verknüpft und gewinnen so eine Konkretheit, die aufmerksam macht für die massiven Ungerechtigkeiten. Sie eröffnet Handlungsmöglichkeiten und ermutigt zu Einstellungsänderungen, Armut nicht als persönliches Versagen einzelner zu betrachten, sondern ihre Opfer in den Blick zu nehmen.